Das Neue Frankfurt

Würden heute keine Hochhäuser in Frankfurt stehen, könnte man sich Fragen was die architektonische Besonderheit der Stadt wäre. Die gotische Innenstadt mit Ihren Fachwerkhäusern ist dem 2.Weltkrieg ebenso zum Opfer gefallen, wie die an der Bastion und am Main gelegenen Häuser des Klassizismus. Doch das alles steht im Schatten einer baulichen Revolution, die man so in nur ganz wenig anderen europäischen Städten erleben kann, die Rede ist vom „Neuen Frankfurt“. Dahinter verbirgt sich ein immenses Wohnungsbauprogramm der 1920er Jahre, in welchem in nur 5 Jahren 12.000 Wohnungen (andere Quellen sprechen von rund 15.000 Wohnungen)in 20 verschiedenen Siedlungen errichtet wurden.

Wie kam es dazu? Nach dem 1.Weltkrieg wurden die Probleme der Städte, die von der Urbanisierungswelle der industriellen Revolution ausgingen unübersehbar. Menschen drängten für Lohn und Arbeit in die Städte, der vorhandene Wohnraum wurde immer geringer, die sozialen und hygienischen Bedingungen verschlechterten sich zusehends. Um die Situation Anfang der 1920er Jahre zu erahnen, muss man sich überfüllte und viel zu volle Häuser vorstellen, zumeist unsaniert und oftmals in erbärmlichen Zustand. Das Wohnungsproblem war damals so umfassend, das der Diskurs der Architekten sich fast gänzlich daran rieb, die sozialen Bedingungen des Wohnens zu verbessern. Und hier ging es um fundamentale Veränderungen. Das neue Wohnen sollte Licht und frische Luft bieten und nicht beengte Gässchen. Wohn- und Arbeitsplatz sollten separiert werden, die Idee der Standardisierung von Wohnwelten wurde aufgenommen, um den Menschen einen höheren Wohn- und damit natürlich Lebenskomfort zu bieten.

In Frankfurt sah das Problem nicht anders als in anderen Großstädten aus. Die gotische Innenstadt mit den alten Fachwerkhäusern war nur noch etwas für die absolute Unterschicht und die Stadt stieß an ihre Grenzen. Um neuen Platz zu gewinnen wurden zahlreiche Orte eingemeindet, am bekanntesten ist das Beispiel Höchst, das Jahre zuvor erst selbst die Dörfer Griesheim, Nied, Sossenheim und Schwanheim geschluckt hatte. Zu Verdanken ist dies Frankfurts umtriebigen Bürgermeister Ludwig Landmann, der seit 1924 im Amt war. Schon vor seiner Zeit wurden einige Arbeiterwohnsiedlungen errichtet, die sich sehr am Konzept der englischen Gartenstadt anlehnten. Landmann engagierte 1925 Ernst May als Stadtbaurat, einen gebürtigen Frankfurter der seit einigen Jahren in Breslau für Furore sorgte und dort einen Bebauungsplan für den Landkreis erstellen sollte und zwei Agrarsiedlungen bauen ließ. Ihm schwebte das Konzept der Trabantenstadt vor, also einer von der Innenstadt gelösten eigenen städtischen Einheit, die jedoch mit dieser schnell über Bahnverbindungen erreicht wurde und eigene soziale Einrichtungen und Arbeitsplätze anbot. Jedoch sollte die Trabantenstadt immer noch Teil des Stadtganzen sein und sich dem Generalbebauungsplan unterordnen.
May wurden viele Freiheiten in Frankfurt eingeräumt, so war es ihm möglich rund 50 Architekten und Gestalter anzuwerben, unter ihnen Margarete Schütte-Lihotzky, Martin Elsaesser oder Martin Weber, so dass man ohne Untertreibung von der Avantgarde dieses Berufsfeldes der damaligen Zeit sprechen kann. Der Großteil der Planungen bezog sich geographisch auf das Nidda-Tal, wo die Siedlungen Römerstadt, Westhausen, Praunheim, Bornheimer Hang und Höhenblick entstanden, aber auch auf der anderen Mainseite so in der Siedlung Bruchfeldstraße in Niederrad wurden neue Quartiere errichtet. Das hieß im Umkehrschluss aber auch, dass die Sanierung der Altstadt nicht vorangetrieben wurde.

Die Siedlungen wurden von der Planung bis zur Übergabe komplett von der Stadt Frankfurt errichtet, was heute sehr ungewöhnlich geworden ist. May wirkte dabei als Koordinator und Planer, selbst entwarf er keine Siedlung. Zwei Leitkonzepte dienten dem Bauen am „Neuen Frankfurt“ (es wurde eine Zeitschrift dieses Namens herausgebracht, die die Projekte veröffentlichte und in einen größeren Zusammenhang stellte). Zum einen das Konzept der Gartenstadt, in dem der Hausbewohner noch die Möglichkeit hat, eigenen Landbau zu betreiben und der Enge der Stadt zu entgehen (May hatte dieses aus Großbritannien stammende Konzept beim Studium in London kennengelernt) und zum anderen das Prinzip der industriellen Serienproduktion, der die Häuser preiswert und finanzierbar machte. In Frankfurt-Praunheim wurde sogar mit der Fertigung von Platten experimentiert (allerdings nicht vergleichbar zu den eher eintönigen Plattenbauten späterer Tage in Ostdeutschland). 10 Versuchshäuser entstanden, die heute unter Denkmalschutz stehen, sowie weitere 204 Reihenhäuser. Die große Mehrzahl der neuen Gebäude wurde aber traditionell aus Backsteinen gefertigt.

Architektonisch stieß dabei besonders das von May präferierte Flachdach heraus, ein Merkmal des modernen Bauens, das besonders aus konservativen Kreisen kritisiert wurde. Außerdem wurde die Farbigkeit der Häuser kritisiert, obwohl Straßenzüge zumeist den gleichen Farbton bekamen, vor und Rückseiten des Hauses aber unterschiedlich seien konnten. Keiner der beteiligten Architekten konnte sich aber frei austoben. May legte enge Grenzen an die pragmatischen Aufgaben, die Wohnungen hell, praktisch und billig zu bauen. Auch waren die neuen Wohnungen nicht ausschließlich für die ärmere Arbeiterschicht. Je nach Wohnlage und Größe der Häuser siedelten auch Angestellte und Beamte (z.B. in der Römerstadt) oder Lehrer und Künstler (wie in der Siedlung Höhenblick in Ginnheim). Zumeist waren neben Reihenhäusern auch Mehrfamilienhäuser gebaut wurden, insgesamt sind die Siedlungen trotz begrenztem Budgets und knapper Zeit höchst abwechslungsreich. Die Römerstadt zitiert die alte römische Stadt Nida, auf deren Grund sie errichtet wurde durch vorgerügte Bastionsbauten. In Niederrad wurde bei Teilen der Siedlung Bruchfeldstraße die Häuser sägezahnartig um 45 Grad versetzt, wodurch sich im Volksmund der Begriff Zickzackhausen manifestierte.

Ein entscheidendes Detail für den Erfolg der Wohnhäuser war die vollkommene Umgestaltung der Küche. Bis zu jenen Tagen war die Küche der zentrale Raum einer Wohnung, sie war groß, damit alle Gerätschaften und Möbel hineinpassten und sie war im Winter der vielleicht einzig beheizte Ort im Haus wo die Familie lebte. Mit den neuen Platzanforderungen des Bauens, musste aber gerade am Platz in der Küche gespart werden. Wie sollte man aber eine 6m² große Küche vermieten? Die Lösung entwarf die Wienerin  Margarete Schütte-Lihotzky. Ihre Vision ist noch heute aktuell, denn sie beinhaltet, dass preiswerte Mietwohnungen schon teilweise eingerichtet sein sollten, so dass man notfalls nur mit dem Koffer umziehen könnte (was heute schon Realität geworden ist, wenn man sich das Leben der Expats anschaut) . Lihotzky entwarf dafür die Frankfurter Küche, die erste Einbauküche der Welt, die im Haus blieb wenn der Mieter die Wohnung wechselte. Sie führte dazu zahlreiche empirische Untersuchungen durch, studierte typische Handgriffe und Bewegungen in der Küche und belas sich bei zeitgenössischen Publikationen. Heraus kam die Frankfurter Küche, die passgenau für die Wohnungen angefertigt wurde und sogar schon einen Elektroherd beinhaltete (damals technisch, der neueste Schrei).

International gewann das „Neue Frankfurt“ große Aufmerksamkeit. Der zweite CIAM Kongress (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, eine Art Denkfabrik führender Architekten, dazu gehörten Lichtgestalten wie Le Corbusier oder Gropius) wurde 1929 in der Stadt unter dem Titel „Die Wohnung für das Existenzminimum“ abgehalten, was übrigens wieder die soziale Verflechtung bzw. das soziale Engagement des damaligen architektonischen Diskurses zeigt. Im Jahr 1930, als die Weltwirtschaftskrise ihre Auswirkungen besonders in Deutschland offenbarte und das Land politisch immer mehr nach rechts abdriftete, ließen sich May und einige seiner Mitarbeiter für ein neues Projekt eines damals enorm wachsenden Staates im Osten begeistern, sie gingen in die Sowjetunion.

Heute sind die Bauten jener Zeit leider etwas in Vergessenheit geraten, Frankfurt schmückt sich mit teuren und gigantischen Hochhäusern, aber wirklich revolutionär waren die 1920er Jahre unter Ernst May und das Neue Frankfurt.