Die Weißenhofsiedlung

Die 1920er Jahre waren in Europa geprägt von den Auswirkungen des 1.Weltkriegs. In den schnell wieder anwachsenden Städten des Kontinents musste man einen riesigen Mangel an bezahlbaren und lebenswerten Wohnungen feststellen. Wirtschaftliche Probleme (man denke an die Hyperinflation in Deutschland 1923 oder die Weltwirtschaftskrise ab 1929) und politische Instabilitäten prägten das Bild des Jahrzehnts. Gleichzeitig sind die „Goldenen 20er“, wie die Dekade eben auch genannt wird, von einer Welle neuer Ideen und einem Reformeifer in Kunst, Kultur und Technik geprägt, der unter anderem zum Aufleben des modernen Bauens führte. Es sind die 1920er Jahre, in denen erstmals sichtbar, dass modernen Bauen in der Architektur manifestierte und in welchem einige noch heute hochgeschätzte Meisterwerke des Jahrhunderts entstanden. Vielleicht kann man sogar so weit gehen und sagen, dass es im Ganzen 20.Jahrhundert kein Jahrzehnt mehr geben sollte, was ähnlich innovativ und vielfältig, so radikal Neues schuf. Es war die Zeit gekommen, als sich die Moderne in der Architektur formte und gegen das alte historisierende Bauen durchzusetzen begann, eine Zeit neuer und radikaler Ideen, in der die Ästhetik des restlichen Jahrhunderts entstand.  

Architektonische Meisterwerke wie die Villa Poissy bei Paris von Le Corbusier, Mies van der Rohes Deutschen Pavillon in Barcelona oder Erich Mendelsohns Einsteinturm in Potsdam sind nur einige der Leuchttürme eines neuen baulichen Stils. Doch die Moderne war nicht nur ein Versuch althergebrachtes Bauen radikal anders zu machen, sie hatte gleichzeitig den Anspruch, eine bessere und vor allem lebenswerte Welt herzustellen. Getragen wurde diese Intention von den vollkommen unzureichenden sozialen Bedingungen, die sich schon weit vor dem 1.Weltkrieg in den Städten breit machten. Diese gehen immer noch zurück auf die Urbanisierung im 19.Jahrhundert. Getragen von der Industriellen Revolution wurde aus überschaubaren Städtchen innerhalb von Jahrzehnten ständig anwachsende Moloche verdichtet untergebrachter Menschenmassen. Waren in Europa zum Ende des 19.Jahrhunderts gerade einmal die schlimmsten hygienischen Katastrophen eingedämmt wurden, so war es nun höchste Zeit den Gegenstand des guten, oder wenigstens akzeptablen, Wohnens für die Einwohner der Stadt konsequent anzugehen. Das „Neue Frankfurt“ unter Ernst May kann als Musterbeispiel für das Bemühen gesehen werden, neuen Wohnraum mit einer zeitgenössischen Formensprache zu errichten. Kann man im „Neue Frankfurt“ die praktische Anwendung des „Neuen Bauens der Moderne“ sehen, so ist die Weißenhofsiedlung – um die sich dieser Artikel dreht – so etwas wie der Konstruktionsplan, die Mustersiedlung, der Leistungskatalog der Moderne.

Der deutsche Werkbund, eine 1907 in München gegründete Vereinigung von Künstlern, Architekten, Industriellen und Handwerkern, gelang es 1925 die Stadt Stuttgart als Partner für eine Ausstellung zum modernen Wohnen zu gewinnen. Hierfür war insbesondere die württembergische Arbeitsgemeinschaft des Bundes unter Gustav Stotz verantwortlich, der den Oberbürgermeister Karl Lautenschläger von einem Projekt mit internationalem Inhalt und Strahlkraft überzeugen konnte. Schließlich erklärte sich die Stadt bereit, 1927 eine Ausstellung zum Thema „Wie Wohnen?“ abzuhalten. Vier Teile prägten die Ausstellung, erstens eine Schau in neun Messehallen in der Stadtmitte mit dem Titel „Einrichtung des Hauses“, wo Firmen neue Einrichtungsgegenstände vom Staubsauger über Bodenbeläge bis hin zur Haustechnik präsentierten. Zweitens eine „Internationale Plan- und Modell-Ausstellung Neuer Baukunst“ in welchem Projekte von 129 eingeladenen Architekten aus zehn Ländern präsentiert wurden (eine Art Projektsammlung des who is who der frühen Moderne). Drittens ein Experimentiergelände auf dem Killesberg, wo Baumaschinen und Baustoffe gezeigt wurden und viertes eine, gleich in direkter Nachbarschaft davon entstehende Musterhaussiedlung mit 33 Häusern, die den Titel „Der Bau des Hauses“ trug und heute unter dem Titel „Weißenhofsiedlung“ (der Titel bezog sich auf einen hier stehenden Bauernhof) in die Geschichte der Architektur eingegangen ist.
Ludwig Mies van der Rohe wurde vom Deutschen Werkbund mit einem Bebauungsplan beauftragt und übernahm die künstlerische Leitung der Ausstellung. Nach einem Auswahlverfahren lud er schließlich 17 Architekten ein, welche jeweils eine Parzelle Bauland bekamen. Gemeinsam wurde festgelegt, welcher Haustyp vom wem erbaut werden sollte. Mies van der Rohe ordnete das Baugebiet, das am Gefälle des Killesberg liegt, so an, dass niedrigere Gebäude weiter unten am Hang und höhere weiter oben stehen sollten, so dass für alle Wohnungen eine gute Belichtung und ein guter Blick ins Tal möglich waren. Gebaut werden sollten nur Einfamilien-, Reihen- oder Mehrfamilienhäuser, alle jedoch mit Wohnungen, die sich der normale Bürger leisten konnte. Tatsächlich erwies sich das als Trugschluss, denn die anfangs aufgerufenen Preise waren für die damaligen Einkommensverhältnisse sehr hoch bis astronomisch. Erst als die Stadt Stuttgart, als Besitzerin der Wohnungen, die Mietpreise 1928 halbierte, fanden sich genügend Mieter für die Siedlung. Eine Grundregel mussten die Architekten beherzigen, alle Bauwerke sollte ein Flachdach haben. Tatsächlich gilt noch heute das Flachdach als ein stilprägendes Element der Moderne, ein Element, an dem sich noch lange ein – teilweise sehr oberflächlicher – Streit über die Ästhetik der Moderne entzünden sollte, auf dem wir später zurückkommen werden. An dieser Stelle sei nochmals bemerkt, 1927 war die Moderne noch eindeutig nicht die Form des Establishments, des vorherrschenden Seheindrucks, sondern etwas ziemlich bis vollkommen Neues, eine Architekturrevolution an deren Anblick sich viele erst einmal gewöhnen mussten.
Der Anspruch sowohl der Weißenhofsiedlung als auch der gesamten Baubewegung der Moderne in den 1920er Jahren war (und ist) international, was gleichfalls die Plan- und Modellausstellung deutlich machte. Natürlich sollten ebenso die Häuser auf dem Weißenhof diesem internationalen Anspruch gerecht werden und so lud Mies van der Rohe Architekten aus mehreren Ländern ein. Diese waren: Peter Behrens, Victor Bourgeois (Belgien), Le Corbusier zusammen mit seinem Bruder Pierre Jeanneret (Schweiz), Richard Decker, Joseph Frank (Österreich), Walter Gropuis, Ludwig Hilbersheimer, Pieter Oud (Niederlande), Hans Poelzig, Adold Rading, Mart Stam (Niederlande), Hans Scharoun, Adolf Schneck, Bruno und Max Taut. Diese damals zum Teil kaum bekannten Architekten stehen heute als Wegbereiter solcher Tendenzen wie De Stijl, Rationalismus, Funktionalismus, Bauhaus oder das organische Bauen in den Almanachen der Architekturgeschichte.

Äußerlich ist der erste Eindruck der Weißenhofsiedlung recht einheitlich. Alle Häuser haben eine kubische Bauform, die schon angesprochenen Flachdächer und insbesondere für die damalige Zeit ungewöhnlich große Fensteröffnungen, die gern zu Fensterbändern zusammengeschlossen wurden. Ihnen fehlte jegliches Zierelement auf ihren schmucklos verputzten weißen Fassaden. Neu war ebenfalls das diese Häuser in ihrer Aussicht zum Tal hin orientiert waren, nicht zur Straße hin. In der Größe betont waren die Wohnräume, während die Funktionsräume eher klein gehalten waren. Dafür konnten variable Anpassungen in den Wohnungen vorgenommen werden, durch Schiebe- und Faltwände konnten die Bewohner Räume nach ihrem Wohngeschmack arrangieren. Gleichfalls waren natürlich alle Wohnungen mit moderner Haustechnik ausgestattet; alle hatten ein eigenes Bad, alle Häuser hatten zentrale Heizungen und in jede Küche verfügte über Gasanschluss, welche die damals gängigen Kohleöfen obsolet erscheinen ließen.
Dieser einheitliche Eindruck erweist sich jedoch bei genauem Hinsehen als voreilig, denn „die einzelnen Bauten dieses zeitgenössischen Museums internationaler Architektur [zeigten] sehr unterschiedliche Ansätze. Das Haus Scharouns bestand aus sich überschneidenden Kurven und wirkte im Vergleich zur stereometrischen Disziplin der anderen Entwürfe geradezu expressionistisch. Le Corbusiers größeres Gebäude mit seinen pilotis, dem glatten, schwebenden Kasten, den großen Glasflächen, den nautischen Anklängen und der nahezu fantastischen Demonstration der cinq points kontrastierte wiederum mit Mies van der Rohes geschlossenerem, erdgebundenen, planimetrischen Apartmentgebäude.“ (Curtis S.259) Hier zeigt sich schon die Unterschiedlichkeit, welche die Bewegung des modernen Bauens schnell bekam, mit ihren mannigfachen Ausprägungen und Formentendenzen. Im Kontext zur bestehenden Tradition jedoch, blieb jedoch gleichfalls der Eindruck eines Neuen Bauens, der aufgrund seiner offenen Multinationalität später auch als „International Style“ bezeichnet werden sollte (Henry-Russel Hitchcock und Philip Johnson gaben dem wirkungsmächtigen Ausstellungskatalog ihrer Schau über neues Bauen im New Yorker Museum of Modern Art diesen Namen, der schnell zu einem Etikett für eine allerdings – wie gerade bemerkt – sehr unterschiedliche architektonische Richtung wurde). Tatsächlich ist zu bemerken, dass sich „1927 erstmals eine internationale Front“ (Curtis S. 198) für diese neue Form der Architektur bildete und daran hatte die Weißenhofsiedlung einen entscheidenden Anteil. Auch wenn der Werkbund noch fünf weitere Siedlungen in der Nachfolge Stuttgarts plante (Brünn, Breslau, Zürich, Wien und Prag) blieb der Weißenhof doch das Sinnbild für das neue und moderne Bauen, ein heute noch begehbares Monument der Architekturgeschichte.
Gleichwohl hatte es dieses Sinnbild schwer. Anfeindungen waren schon seit seiner Entstehung zu hören. Oberflächlich arbeiteten sich diese am Flachdach ab, das insbesondere von konservativen Architekten und Denkern als undeutsch galt und selbst der Volksmund sprach schnell vom „Araberdorf“, oder der „Vorstadt Jerusalems“. Schon zu Beginn der 1930er Jahre wurde eine Gegenbebauung in Stuttgart errichtet, die Kochenhofsiedlung, in welcher explizit jedes Gebäude unbedingt ein Satteldach tragen musste (selbst anhängende Schuppen). Später diffamierten auch die Nationalsozialisten die Weißenhofsiedlung (beispielsweise mit einer ebenso lächerlichen wie diffamierenden Postkartencollage) und waren bestrebt hier einen Neubau der Militärverwaltung zu bauen und damit die „undeutschen“ Häuser abzureißen. Allerdings war paradoxerweise der 1939 von ihnen gestartete 2.Weltkrieg dafür zuständig, dass es nicht zum Abriss und Neubau kam. Jener Krieg allerdings zerstörte einige Häuser des Areals, da sich hier eine Flakstellung befand, welche beschossen wurde. Auch in der jungen Bundesrepublik war die architektonische Qualität des Weißenhofes anfangs kaum bemerkt worden.1956 fielen die Häuser Adolf Radings und Bruno Tauts dem Abriss zum Opfer und erst als die Bauwerke Le Corbusier ein ähnliches Schicksal ereilen sollte, stellte man 1958/59 das gesamte Ensemble unter Denkmalschutz. Tatsächlich waren schon zu jenem Zeitpunkt zahlreiche Häuser stark entstellt, umgebaut oder in einem allgemein recht bedauerlichen baulichen Zustand. Der anlässlich des 50.Jahrestages der Eröffnung 1977 gegründete Verein „Freunde der Weißenhofsiedlung“ bemühte sich seit den 1980er Jahren um eine Sanierung der Bauwerke mit dem Ziel eine ursprünglichere Beschaffenheit wiederherzustellen. Lediglich das Doppelhaus von Le Corbusier wurde 2002 bis 2006 nochmals restauriert und nicht nur in den Originalzustand gebracht, sondern auch als Museum eröffnet, in welchem man sich zum einen zur Geschichte Siedlung informieren kann und zum anderen einen Eindruck von der Inneneinrichtung der Wohnungen bekommt. 2016 wurde der Museumsbau als Teil der Bauten von Le Corbusier zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.

 

Literatur:

Valerie Hammerbach, Anja Krämer- 2015 – „Die Werkbundsiedlung Stuttgart Weißenhofsiedlung (Bauhaus Taschenbuch Nr.14); Spector Book
Dieses kompakte Buch bietet einen wunderbaren Überblick über Geschichte, Bedeutung und Inhalt der Weißenhofsiedlung

William J.R. Curtis – 2002 – „Moderne Architektur. Seit 1900“ – Phaidon

Im Standartwerk zur Modernen Architektur findet natürlich auch die Weißenhofsiedlung ihren Platz, wer sich zum modernen Bauen belesen möchte, der kommt an diesem wundervollen Buch (vielleicht einem der besten Architekturbücher überhaupt) nicht vorbei

Das Neue Frankfurt

Würden heute keine Hochhäuser in Frankfurt stehen, könnte man sich Fragen was die architektonische Besonderheit der Stadt wäre. Die gotische Innenstadt mit Ihren Fachwerkhäusern ist dem 2.Weltkrieg ebenso zum Opfer gefallen, wie die an der Bastion und am Main gelegenen Häuser des Klassizismus. Doch das alles steht im Schatten einer baulichen Revolution, die man so in nur ganz wenig anderen europäischen Städten erleben kann, die Rede ist vom „Neuen Frankfurt“. Dahinter verbirgt sich ein immenses Wohnungsbauprogramm der 1920er Jahre, in welchem in nur 5 Jahren 12.000 Wohnungen (andere Quellen sprechen von rund 15.000 Wohnungen)in 20 verschiedenen Siedlungen errichtet wurden.

Wie kam es dazu? Nach dem 1.Weltkrieg wurden die Probleme der Städte, die von der Urbanisierungswelle der industriellen Revolution ausgingen unübersehbar. Menschen drängten für Lohn und Arbeit in die Städte, der vorhandene Wohnraum wurde immer geringer, die sozialen und hygienischen Bedingungen verschlechterten sich zusehends. Um die Situation Anfang der 1920er Jahre zu erahnen, muss man sich überfüllte und viel zu volle Häuser vorstellen, zumeist unsaniert und oftmals in erbärmlichen Zustand. Das Wohnungsproblem war damals so umfassend, das der Diskurs der Architekten sich fast gänzlich daran rieb, die sozialen Bedingungen des Wohnens zu verbessern. Und hier ging es um fundamentale Veränderungen. Das neue Wohnen sollte Licht und frische Luft bieten und nicht beengte Gässchen. Wohn- und Arbeitsplatz sollten separiert werden, die Idee der Standardisierung von Wohnwelten wurde aufgenommen, um den Menschen einen höheren Wohn- und damit natürlich Lebenskomfort zu bieten.

In Frankfurt sah das Problem nicht anders als in anderen Großstädten aus. Die gotische Innenstadt mit den alten Fachwerkhäusern war nur noch etwas für die absolute Unterschicht und die Stadt stieß an ihre Grenzen. Um neuen Platz zu gewinnen wurden zahlreiche Orte eingemeindet, am bekanntesten ist das Beispiel Höchst, das Jahre zuvor erst selbst die Dörfer Griesheim, Nied, Sossenheim und Schwanheim geschluckt hatte. Zu Verdanken ist dies Frankfurts umtriebigen Bürgermeister Ludwig Landmann, der seit 1924 im Amt war. Schon vor seiner Zeit wurden einige Arbeiterwohnsiedlungen errichtet, die sich sehr am Konzept der englischen Gartenstadt anlehnten. Landmann engagierte 1925 Ernst May als Stadtbaurat, einen gebürtigen Frankfurter der seit einigen Jahren in Breslau für Furore sorgte und dort einen Bebauungsplan für den Landkreis erstellen sollte und zwei Agrarsiedlungen bauen ließ. Ihm schwebte das Konzept der Trabantenstadt vor, also einer von der Innenstadt gelösten eigenen städtischen Einheit, die jedoch mit dieser schnell über Bahnverbindungen erreicht wurde und eigene soziale Einrichtungen und Arbeitsplätze anbot. Jedoch sollte die Trabantenstadt immer noch Teil des Stadtganzen sein und sich dem Generalbebauungsplan unterordnen.
May wurden viele Freiheiten in Frankfurt eingeräumt, so war es ihm möglich rund 50 Architekten und Gestalter anzuwerben, unter ihnen Margarete Schütte-Lihotzky, Martin Elsaesser oder Martin Weber, so dass man ohne Untertreibung von der Avantgarde dieses Berufsfeldes der damaligen Zeit sprechen kann. Der Großteil der Planungen bezog sich geographisch auf das Nidda-Tal, wo die Siedlungen Römerstadt, Westhausen, Praunheim, Bornheimer Hang und Höhenblick entstanden, aber auch auf der anderen Mainseite so in der Siedlung Bruchfeldstraße in Niederrad wurden neue Quartiere errichtet. Das hieß im Umkehrschluss aber auch, dass die Sanierung der Altstadt nicht vorangetrieben wurde.

Die Siedlungen wurden von der Planung bis zur Übergabe komplett von der Stadt Frankfurt errichtet, was heute sehr ungewöhnlich geworden ist. May wirkte dabei als Koordinator und Planer, selbst entwarf er keine Siedlung. Zwei Leitkonzepte dienten dem Bauen am „Neuen Frankfurt“ (es wurde eine Zeitschrift dieses Namens herausgebracht, die die Projekte veröffentlichte und in einen größeren Zusammenhang stellte). Zum einen das Konzept der Gartenstadt, in dem der Hausbewohner noch die Möglichkeit hat, eigenen Landbau zu betreiben und der Enge der Stadt zu entgehen (May hatte dieses aus Großbritannien stammende Konzept beim Studium in London kennengelernt) und zum anderen das Prinzip der industriellen Serienproduktion, der die Häuser preiswert und finanzierbar machte. In Frankfurt-Praunheim wurde sogar mit der Fertigung von Platten experimentiert (allerdings nicht vergleichbar zu den eher eintönigen Plattenbauten späterer Tage in Ostdeutschland). 10 Versuchshäuser entstanden, die heute unter Denkmalschutz stehen, sowie weitere 204 Reihenhäuser. Die große Mehrzahl der neuen Gebäude wurde aber traditionell aus Backsteinen gefertigt.

Architektonisch stieß dabei besonders das von May präferierte Flachdach heraus, ein Merkmal des modernen Bauens, das besonders aus konservativen Kreisen kritisiert wurde. Außerdem wurde die Farbigkeit der Häuser kritisiert, obwohl Straßenzüge zumeist den gleichen Farbton bekamen, vor und Rückseiten des Hauses aber unterschiedlich seien konnten. Keiner der beteiligten Architekten konnte sich aber frei austoben. May legte enge Grenzen an die pragmatischen Aufgaben, die Wohnungen hell, praktisch und billig zu bauen. Auch waren die neuen Wohnungen nicht ausschließlich für die ärmere Arbeiterschicht. Je nach Wohnlage und Größe der Häuser siedelten auch Angestellte und Beamte (z.B. in der Römerstadt) oder Lehrer und Künstler (wie in der Siedlung Höhenblick in Ginnheim). Zumeist waren neben Reihenhäusern auch Mehrfamilienhäuser gebaut wurden, insgesamt sind die Siedlungen trotz begrenztem Budgets und knapper Zeit höchst abwechslungsreich. Die Römerstadt zitiert die alte römische Stadt Nida, auf deren Grund sie errichtet wurde durch vorgerügte Bastionsbauten. In Niederrad wurde bei Teilen der Siedlung Bruchfeldstraße die Häuser sägezahnartig um 45 Grad versetzt, wodurch sich im Volksmund der Begriff Zickzackhausen manifestierte.

Ein entscheidendes Detail für den Erfolg der Wohnhäuser war die vollkommene Umgestaltung der Küche. Bis zu jenen Tagen war die Küche der zentrale Raum einer Wohnung, sie war groß, damit alle Gerätschaften und Möbel hineinpassten und sie war im Winter der vielleicht einzig beheizte Ort im Haus wo die Familie lebte. Mit den neuen Platzanforderungen des Bauens, musste aber gerade am Platz in der Küche gespart werden. Wie sollte man aber eine 6m² große Küche vermieten? Die Lösung entwarf die Wienerin  Margarete Schütte-Lihotzky. Ihre Vision ist noch heute aktuell, denn sie beinhaltet, dass preiswerte Mietwohnungen schon teilweise eingerichtet sein sollten, so dass man notfalls nur mit dem Koffer umziehen könnte (was heute schon Realität geworden ist, wenn man sich das Leben der Expats anschaut) . Lihotzky entwarf dafür die Frankfurter Küche, die erste Einbauküche der Welt, die im Haus blieb wenn der Mieter die Wohnung wechselte. Sie führte dazu zahlreiche empirische Untersuchungen durch, studierte typische Handgriffe und Bewegungen in der Küche und belas sich bei zeitgenössischen Publikationen. Heraus kam die Frankfurter Küche, die passgenau für die Wohnungen angefertigt wurde und sogar schon einen Elektroherd beinhaltete (damals technisch, der neueste Schrei).

International gewann das „Neue Frankfurt“ große Aufmerksamkeit. Der zweite CIAM Kongress (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, eine Art Denkfabrik führender Architekten, dazu gehörten Lichtgestalten wie Le Corbusier oder Gropius) wurde 1929 in der Stadt unter dem Titel „Die Wohnung für das Existenzminimum“ abgehalten, was übrigens wieder die soziale Verflechtung bzw. das soziale Engagement des damaligen architektonischen Diskurses zeigt. Im Jahr 1930, als die Weltwirtschaftskrise ihre Auswirkungen besonders in Deutschland offenbarte und das Land politisch immer mehr nach rechts abdriftete, ließen sich May und einige seiner Mitarbeiter für ein neues Projekt eines damals enorm wachsenden Staates im Osten begeistern, sie gingen in die Sowjetunion.

Heute sind die Bauten jener Zeit leider etwas in Vergessenheit geraten, Frankfurt schmückt sich mit teuren und gigantischen Hochhäusern, aber wirklich revolutionär waren die 1920er Jahre unter Ernst May und das Neue Frankfurt.