Die europäische Stadt im Mittelalter

Das ausgehende Mittelalter (insbesondere das 13. Jahrhundert) ist die Zeit, in der es zu einer wahren Stadtgründungswelle in Europa kommt. Wir wollen an dieser Stelle an die Überlegungen des Mediävisten Jaques LeGoff anknüpfen, dessen hervorragendes Buch „Die Geburt Europas im Mittelalter“ wärmstens empfohlen wird (die Argumentation wird hier größtenteils aufgenommen).

Das 13.Jahrhundert ist eine vergleichsweise friedliche und ökonomisch prosperierende Zeit in Europa, wobei mit diesem Begriff der Teil des Kontinentes verstanden wird, auf dessen Territorien sich damals, der Katholizismus als wesentliche Religion durchgesetzt hatte.
Die Stadt des Mittelalters bewahrt sich zwar in großen Teilen den Standort der antiken Stadt, jedoch hat sich ihr Erscheinungsbild geändert. Die militärische Funktion ist kleiner geworden, so wie die ökonomische Funktion angewachsen ist.

Was ist in jener Stadt zu finden?
Der Markt stellt den Mittelpunkt der Mittelalterlichen Stadt dar. Neu ist, dass die vielen Läden der Handwerker Einzug gehalten haben und damit die Stadt zu einem Orten der Produktion machten, die bisher fast ausschließlich auf dem Land von statten ging. Zu einer Stadt gehört natürlich auch die obligatorische Stadtmauer, welche die Stadt aber nicht definiert. Denn was die Stadt ausmacht sind seine Bewohner, die Bürger. Diese sorgten sich um die Reinlichkeit in der Stadt und bauten neue Gebäude, die zunehmend ästhetischen Maßgaben nach eiferten oder gar neu definierten. So entstand in der Stadt eine neue Vorstellung von Schönheit. Die Stadtmauern hielten quasi eine Gemütsverfassung der Bewohner fest, die sich in materiellen Gegebenheiten und geistigen Vorstellungen manifestierte. Die Stadtmauer war nicht nur ein Schutzwall, sondern sie war auch das Symbol für die Stadt. Gern wurden in den aufkommenden Stadtsiegeln die Mauer der Stadt aufgenommen. Wichtig waren dabei natürlich auch die Stadttore, die zwischen Innen und Außen vermittelten. Die Dialektik zwischen privilegiertem Innenraum und dem Äußeren spielte im Mittelalter eine große Rolle.
Städte wurden zu Orten der Bewunderung. Berge und Küsten, die heute Besucher anziehen, hatten keinen Reiz für die Bewohner des Mittelalters. Städte allerdings schon. Hier wohnten vergleichsweise viele Bewohner auf engen Raum, wirtschaftliche Aktivitäten im größeren Ausmaß wurden hier getätigt, neue und teilweise imposante Bauwerke schmückten die Straßen und unterschiedliche Gewerbe waren zu finden. Schließlich hatte auch jede Stadt, die etwas auf sich hielt einen legendären Mythos, der die Genese in der Vergangenheit erklärte. So wurden die Städte, neben den Klöstern zu den ersten Orten, einer wenngleich noch sehr rudimentären, Geschichtsschreibung.

Im Mittelalter kann man grob verschiedene Stadttypen unterscheiden:
Die Bischofsstadt:  Die Anwesenheit eines Bischofs war ein wichtiges urbanes Zeichen. Als Verantwortlicher für die Riten sammelten sich unter ihm die Gläubigen in den Kirchen. Dabei wurden erstmals auch die Toten in das Stadtleben einbezogen und Friedhöfe innerhalb der Siedlungen angelegt, was eine revolutionäre Neuerung war, denn noch in der Antike galt dem toten Leichnam Abscheu.
Großstädte: Das 13. Jahrhundert sah ein nicht zu unterschätzendes Bevölkerungswachstum, wobei die großen Städte Europas nicht die Dimensionen des Orient erreichten. Bedeutende Städte hatten bereits 10- oder gar 20.000 Einwohner. Barcelona und Palermo waren mit 50.000 Einwohner außergewöhnlich, London, Gent, Genua und Cordoba (allerdings auf islamischen Boden gelegen) hatten schon 60.000, Bologna und Mailand über 70.000 Einwohner. Florenz und Venedig überschritten wohl schon die heutige Grenzmarke zur Großstadt mit über 100.000 Einwohnern und Paris mit seinen mindestens 200.000 Einwohnern im Jahr 1300 sprengte alle Dimensionen in Europa.
Hauptstädte: Hauptstädte waren Orte die von einer übergeordneten politischen Gewalt zum Sitz erhoben wurde. Dies war im Mittelalter eine große Besonderheit und hat nicht viel mit einer heutigen Hauptstadt zu tun. Die Wichtigkeit politischer Behörden war sehr gering und den Status Hauptstadt einer administrativen Einheit zu sein, war wenig bis gar nicht ausgeprägt, zumal die Höfe nicht unbedingt an einem einzigen Ort beheimatet sein mussten und eher durch die Lande reisten.
Stadtstaaten: Stadtstaaten demgegenüber waren Städte, die sich zu eigenständigen Staaten entwickelten. Ein Phänomen, dass man insbesondere in Italien beobachten konnte. Die italienischen Städte durchliefen vom 10. bis zum 14. Jahrhundert eine Entwicklung, die sich in drei Phasen aufteilen lässt. Nach der Errichtung einer aristokratischen Kommune, bei dem man Grafen oder Bischöfen die Macht genommen hatte folgte die Aufspaltung des an der Macht kommenden Adels. So griff man in der zweiten Phase zumeist auf einen auswärtigen Amtsträger zurück, dem einige Befugnisse übertragen wurden. In einer dritten Phase setzte sich die Stadtregierung schließlich aus Zünften und Kooperationen der handwerklichen und kaufmännischen Elite der Bevölkerung zusammen. Dabei kam es immer wieder zu zahlreichen Auseinandersetzungen der Familienclans, welche die Regierungsgewalt übernahmen. Die italienischen Städte sind jedoch eher Ausnahme als Regel. Im Rest Europas lebte die Aristokratie zumeist auf Burgen auf dem Lande, wobei sie sich durchaus Zweitwohnsitze in den Städten leisteten.

Soziale Gruppen in der Stadt
Die Stadt steht nicht komplementär zum Feudalsystem des Landes, sondern sie profitierte von ihm. Sie nutze die Produkte des Landes, ebenso zog sie Bauern als neue Bewohner an und die handwerklichen und ökonomischen Entwicklungen der Stadt, ist ohne den landwirtschaftlichen Überschuss an Lebensmitteln nicht zu denken. Dabei ist der Regierungstyp unterschiedlich zum Feudalsystem des Landes. Die Städte kämpften zumeist um Freiheitsrechte, die sie teilweise auch bekamen. Damit wurden sie zu Kommunen, die ein Maß an Selbstverwaltung entstehen ließ. Diese Administration wiederum führte zum Einsatz von Juristen, die als erste Rechtsgelehrte alltägliche Probleme zu lösen hatten. Erst später, mit der Einbeziehung der Universitäten wurden daraus Experten des Rechtes, die sich um Ausarbeitung von umfangreichen Rechtskatalogen kümmerten. Ein weiterer Aspekt der Stadt ist es, dass sie verstärkt Steuern und Abgaben von ihren Bürgern eintrieben, zumeist um kommunale Projekte zu finanzieren. Die Gleichheit der Stadtbürger wurde dabei aber schnell ausgehebelt und es bildete sich eine Schicht von Eliten, die sich finanziell und politisch von den anderen Stadtbürgern absetzte. Diese neu entstehende Oberschicht, war unabhängig vom Adelsgeschlecht, aber auch sie kannte bürgerliche Genealogien, dass heißt Generationenübergreifende Familienbande, die zu höherem Status führten. Ebenso konnten einige Berufe einen höhere Reputation genießen und die Zahl der als unerlaubt geltenden Berufe ging zurück. Der Gastwirt beispielsweise, der seit der Antike einen sehr schweren Stand hatte wurde rehabilitiert. Nur die Prostitution und der Wucherer blieben verabscheuungswürdig. Die Prostitution jedoch wurde geduldet und der Wucher so umgedeutet, dass lediglich der verstärkt von Juden betriebene Gebrauchsdarlehen sich Vorwürfe gefallen lassen musste.
Auf der anderen Seite der Skala standen die Kaufleute, die zumeist im großen Maßstab mit wertvollen Produkten handelten. Diese Patrizier bildeten zumeist die städtische Führungsschicht. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass der Reichtum der Städte weniger von diesem Personenkreis, als vom Gewerbe entsprungen ist. So sieht man beispielsweise in Flandern, wo das Tuchmachergewerbe florierte, führte es auch zum Wachstum der dortigen Städte. Erst die Textilverarbeitung schuf die Kaufmannsgilde.
So war die soziale Ungleichheit die sich gerade auch in der Stadt zeigte, eine sichtbare Belastung der Zeit. Dennoch war die Stadt ein einheitliches, wenngleich prä-demokratisches Gebilde. Aber gerade im Vergleich zur weit ins Umland hineinreichenden muslimischen Stadt oder mit der chinesischen Stadt, die kein Zentrum und keine Autonomie besaß, entwickelte sich die europäische Stadt intensiver, vielfältiger und auch demokratischer als andere Beispiele dieser Zeit. Ausgehend von Kerngebieten, die entweder ein Markt, oder eine Burg waren entwickelten sich die Städte insbesondere im 13. Jahrhundert mit großer Geschwindigkeit.

Fazit
Die Städte waren anfangs auf kleinem Raumkonzentrierte Gesellschaften in Mitten von weiten, schwach bevölkerten Gebieten. Sie sind Orte der Produktion und des Tausches, wobei sich beide Formen unter dem Einfluss der Geldwirtschaft vermischen. Kulturell trennt sie sich vom ländlichen Gebiet, weil Städte die Praxis kreativer und schöpferischer Arbeit begünstigten. Geschäfte machen und Geld zu erwirtschaften war etwas zutiefst städtisches, ebenso wie ein Aufkommender Sinn für Schönheit und dem Hang zum Luxus. Reiche bilden in der Stadt keine Hierarchie mehr untereinander aus, sondern sitzen Seite an Seite und regieren eine einheitliche und solidarische Masse, wobei dies das Ideal abbildet, das in der Realität immer wieder an seine Grenzen stieß, gerade da sich die Oberschicht in Steuerfragen gern begünstigte. Doch von der Grundidee her waren alle Städter gleich, ganz anders auf dem Lande, wo der Grundherr über den Leibeigenen verfügen konnte. Der Städter war Nutznießer einer Gemeinschaftskultur, die sich überall im städtischen Raum ausbildet, auf den Marktplätzen, in Schulen, Tavernen, beim Theaterspiel (das seit dem 13.Jahrhundert von den Klöstern kommend, auch in der Stadt wieder auflebte) und auch bei der Predigt. „Die mittelalterliche Stadt ist eine Persönlichkeit, die die Vielzahl der Persönlichkeiten prägt, aus denen es besteht. Das urbane Europa hat bis heute so manche ihrer Grundzüge bewahrt.“ (S.154)