Was ist dekonstruktivistische Architektur?
Woran erkenne ich ein Gebäude des architektonischen Stils des „Dekonstruktivismus“? Das ist eine nicht ganz leicht zu beantwortende Frage, der wir uns in diesem Artikel stellen wollen. Man kann den Dekonstruktivismus als eine Epoche im Bauen ansehen, der irgendwann nach der Zeit der modernen und auch der postmodernen Architektur begann. Ein kurzer Blick zurück: historisch betrachtet ist die alles dominierende Bauform des 20. Jahrhunderts die Moderne, mit ihren klaren Linien, scharfen Kanten, einem Hang zur Internationalität, dem Versuch zeitlos und daher unhistorisch zu bauen und einem strengen Rationalismus. Vom DDR-Plattenbau über das Seagram Building in New York bis zum Loos-Haus in Wien kann man grob vereinfacht von Gebäuden der Moderne sprechen.
Schon nach dem 2.Weltkrieg als die Moderne die alles beherrschende Form des Bauens wurde, entstanden Häuser, die sich diesem Trend entgegen stellten. Bis in die 1970er Jahre hinein war jedoch die Epoche vollkommen wirkmächtig und wenig hinterfragt. Erst in den darauf folgenden Jahren kam es zu Abweichungen und Neuerungen, wie beispielsweise der Postmoderne.
Der Dekonstruktivismus jedoch entstand erst in den 1980ern. Der Begriff bezieht sich auf eine philosophisch-hermeneutische Methode, die insbesondere in Schriften von Jaques Derrida ausgearbeitet wurden. Ihm ging es um die Dekonstruktion von sprachlichen Systemen, um dort tieferliegende Bedeutungen herauszufiltern. In der Architektur muss man diesen interpretativen Gestus nun in ein gestalterisches Element verwandeln. Dabei orientiert sich die Architektur an der bildenden Kunst, mit ihrem Prinzip der Demontage, das verborgenen Strukturen und Inhalte aufzeigen soll und die Fragmentierung in der heutigen Gesellschaft Ausdruck verschaffen möchte. Vereinfacht könnte man zusammenfassend sagen, der Dekonstruktivismus kann als „Architektur des Aufzeigens von Brüchen“ gedeutet werden.
An dieser Stelle muss allerdings ein Kompromiss der hier vorliegenden Darstellung angezeigt werden. In diesem Artikel verwenden wir das Wort dekonstruktivistisches Bauen weiter, als es architekturgeschichtlich eigentlich vollkommen Korrekt wäre, denn man kann von einer Zweiteilung sprechen; zum einen vom eigentlichen Dekonstruktivismus und zum anderen vom deformativen Bauen.
Die erste Variante ist die etwas ältere Form, welche Kanten, Brüche und Falten beinhaltet und etwas rau wirkt. Die zweite Form zeigt biomorphe Formen und ineinander fließende Flächen an und ist eine Variante des Gestalten von Häusern die heute noch verwendet wird und zunehmende Popularität genießt. Insgesamt kann man sagen dass diese Form der Architektur ein Phänomen der Advangarde ist, die Bildungsbürger gern als Distinktionsmedium benutzen, um zu zeigen was sie kennen und wie viel kulturelles Kapital mal wieder im Einsatz ist (wundern sie sich nicht, verehrter Leser, dieser Artikel macht im Grunde nichts anderes, wenngleich er versucht auch darüber aufzuklären). Gleichzeitig ist es aber eine sehr kostspielige Form des Bauens, die weiterhin darauf ausgelegt ist, Aufmerksamkeit zu erheischen und daher auch als eine Spektakel-Architektur beschrieben werden kann. Jedoch sind diese Faktoren im ökonomischen System unserer Tage durchaus sehr erfolgreich, bedenkt man, dass sich Bauherren für den Erfolg ihres Anliegens auch – allerdings positiv konnotierter – Aufmerksamkeit wünschen und für ein neues Landmarken-Gebäude (also einem Bauwerk, was grob formuliert, heraussticht) gern auch den teuren Namen des Stararchitekten bezahlen und für eine ungewöhnliche Form das Budget auch etwas spreizen.
Wie kann man sich aber die dekonstruktivistische Architektur genau vorstellen. Ohne Bezug zur Moderne geht dies, wie schon erwähnt, nicht. Die dekonstruktivistische Architektur ist als Gegenpol zur Moderne zu lesen, man kann sogar davon sprechen das sie versucht das Bauen neu zu erfinden, denn sie nimmt sich die Bedingungen von Form, Statik und Funktion und versucht diese zu zerlegen. Die mit der Moderne verbunden Grundsätze der Architektur: den rechten Winkel, das Aufrechte, das Prinzip vom Stütze und Last, Gravitation und Statik sollen hier aufgehoben werden. Dabei ist nicht unbedingt Harmonie erwünscht, sondern der Bruch ist das Ziel: schiefe Wände, scharf geschnittene Formen, Spalten treten auf. Anders als die serielle Produktion der Moderne, die auf billige Reproduktion angelegt wird (was selbstredend natürlich nicht für alle Bauwerke zu verallgemeinern ist, ein Meisterwerk der Moderne, das New Yorker Seagram Building, war das teuerste Hochhaus seiner Zeit) lehnt der Dekonstruktivismus ab. Jedes Bauwerk ist wie ein einzelnes Kunstwerk. Wobei dabei auch in Kauf genommen wird, das sich der Bezug zur Umwelt nicht herstellt. So wirken diese Gebäude wie Mitten in der Stadt gelandete Raumschiffe (siehe dazu der UfA-Kristallpalast in Dresden, der auch noch um 180 Grad falsch eingeparkt wurde. In der Zeit unmittelbar nach seiner Eröffnung war ich Zivildienstleistender in der Nachbarschaft und ich erinnere mich an keinen einzigen alten Menschen, den ich zu betreuen hatte, der auch nur ansatzweise positiv vom neuen Gebäude sprach). Man könnte sagen, der Dekonstruktivismus ist eine Art Anti-Haltung, eine Demontage der modernen Architektur. Er bringt nicht die Häuser zum Schweben (so wie moderne Bauten, beispielsweise bei der Unité in Marseille) sondern sie scheinen in Permanenz einzustürzen. Er sucht bewusst einen Kunstcharakter und trägt symbolhafte Züge in sich.
Dem Dekonstruktivismus geht es visuell um Dynamik, die auch eine Dynamik des Sozialen erzeugen soll, mit einem Durchbrechen des Gewohnten, ohne dabei aber eine spezifische Idee eines neuen Lebens zu haben (wie dies die Moderne noch tat). Es geht diesem Stil nicht um den Aspekt der Problemlösung, sondern um Desillusionierung und Problemveranschaulichung. Man baut das schroffe Gegenteil zum Bestehenden und dabei werden die Gebäude zu Parasiten der europäischen und ebenso modernen Stadt. Es ist eine Architektur die bestehende Muster aufbrechen möchte, die soziale Bewegungen hinterfragt und Aushandlungsprozesse auch als Benutzer der Architektur (nicht nur als Betrachter) erfordert. Gleichwohl ist es eine sehr teure Architektur, dies zusammen mit dem Bruch, den diese Architektur im Stadtbild aufwirft, macht sie nicht umstritten.
Wer mehr zum Thema erfahren möchte, den empfehle ich Hildegard Kretschmers sehr gutes Einführungsbuch zum Thema „Die Architektur der Moderne“. Ebenso Thema, allerdings in verstärkt soziologischer Perspektive ist Heike Delitz Beitrag „Expressiver Außenhalt“ im Sammelband „Die Architektur der Gesellschaft“ von der Autorin gemeinsam mit Joachim Fischer herausgegeben.